Januar 2024

Meine Mobbinggeschichte

Wie bei so vielen fing meine Mobbinggeschichte in meiner Jugend an.

In der Grundschule meines Heimatdorfes fühlte ich mich wohl. Dort hatte ich meine Freund:innen und war gut in die Klassengemeinschaft integriert (wie es laut Zeugnis hieß).

Als ich auf die weiterführende Schule wechseln sollte, wollte meine Mutter mich unbedingt auf eine Gesamtschule in Hamburg schicken. So ging ich also ohne meine Freund:innen auf eine andere Schule und fühlte mich recht allein. Es waren zwar ein paar Jungs aus meinem Dorf ebenfalls auf dieser Schule, aber sie waren viel älter und wir hatten nicht wirklich viel miteinander zu tun. Anfangs sah es zwar nach einem guten Start für mich aus, ich war immerhin Klassensprecher:in. Aber lange hat das nicht angehalten. Es wurde Stück für Stück immer schwerer für mich, mich den anderen anzuschließen.

Als ich in die 6. Klasse kam, fing ich an, in der zweiten großen Pause mit Musik auf den Ohren um den Sportplatz der Schule zu gehen. Die Bewegung tat mir gut und fühlte sich sinnvoller an, als allein in irgendeiner Ecke zu stehen. Schnell habe ich es dann jeden Tag gemacht. Das fiel auch den anderen Schüler:innen auf. Sie fingen an, sich über mich lustig zu machen. Ab und an kam es vor, dass sie sind neben mir hergingen, mich beleidigten oder fett-feindliche Witze machten. Dabei kamen sie sich ganz lustig vor.

"Ich habe mich geschämt, mich vor anderen zu bewegen."

Was mein Gewicht betrifft, war es zu Hause nicht besser. Meiner Mutter war es sehr wichtig, dass ich auf mein Gewicht achte und bloß nicht zunehme.
Andauernd musste ich mir anhören, dass ich nicht so viel essen soll.

Als Kind mochte ich Sport. Zwar war ich nie ein großer Sportenthusiast. Aber ich hatte Freude am Schwimmen und Voltigieren. Irgendwann hörte ich mit beidem auf.

Zum einen nahm ich immer mehr zu, egal was ich machte. Ich habe mich geschämt, mich vor anderen zu bewegen. Sei es beim Schulsport, beim Sport von der Jugendfeuerwehr (dort war ich mit 10 eingetreten), aber auch beim Schwimmen. Die Beleidigungen über mein Gewicht, aber auch die Ermahnungen, haben mich regelrecht gelähmt. Dazu kam, dass meine Beine mir oft wehtaten. Sie waren ständig übermäßig schwer, und wenn ich lief, fingen sie an, zu brennen. Laut meiner Mutter lag es daran, dass ich so dick und unsportlich war.

Also machte ich meine erste Diät. Da war ich ca. 11-12 Jahre alt. Es half nur bedingt. Ich wurde immer dicker. In der Schule wurde es in den darauf folgenden Jahren immer schlimmer. Nach und nach verließen einige Mitschüler:innen, die auch gemobbt wurden die Schule. So wurde es für mich schlimmer.

Schubsen, Kaugummi in die Haare kleben, Kosenamen wie Fettgeschwader waren noch die harmlosen Dinge. Viel weiter möchte ich dies aber nicht ausführen. Als ich all meinen Mut zusammennahm und mich an den Vertrauenslehrer wandte, entgegnete er mir, dass er nur etwas tun könne, wenn er sieht, wie mir diese Dinge angetan werden.

Meine schulischen Leistungen wurden zunehmend schlechter. In so ziemlich jedem Zeugnis stand, dass ich viel mehr könne, wenn ich nur wollte. ,,Du musst nur wollen Maja, streng dich mehr an!“ Es wurde immer schwerer für mich. Ich konnte selten dem Unterricht folgen. An Hausaufgaben war gar nicht zu denken. Ungefähr in der Zeit fing ich an, mich selbst zu verletzen. In einem Zeugnis aus der 8. Klasse stellte meine Lehrer:in die Hypothese auf, dass ich sie mit meinen Stimmungsschwankungen erpressen wolle. Ich verließ die Gesamtschule Ende der 10. Klasse mit einem schlechten Hauptschulabschluss, mit einem noch viel schlechteren Selbstwertgefühl und keinen Plan für meine Zukunft.

"Die Ärzt:innen der Klinik haben mich sehr unter Druck gesetzt; ich sollte auf jeden Fall auch in die Gruppe der Essgestörten."

Der Versuch, meinen Realschulabschluss nachzuholen, scheiterte im ersten Halbjahr.
Es folgte der Fall in ein tiefes Loch, begleitet von Gelegenheitsjobs und Arbeitslosigkeit.

Im Sommer 2004 ging es mir so schlecht, dass ich zum ersten Mal in eine Klinik ging. Ich suchte Hilfe bei meinen Depressionen und der Verdacht auf Borderline stand im Raum. Die Ärzt:innen der Klinik haben mich sehr unter Druck gesetzt, ich sollte auf jeden Fall auch in die Gruppe der Essgestörten. Es interessierte sie nicht, dass ich es nicht wollte. Am Ende des zwölfwöchigen Aufenthalt standen die Diagnosen: schwere Depression und Adipositas (Borderline wurde nicht bestätigt). Mein Gewicht hatte sich nicht sonderlich verändert und in den Monaten nach der Klinik habe ich schlagartig über 10kg zugenommen.

Im Jahr nach der Klinik habe ich an einer Jugendfördermaßnahme teilgenommen und im Anschluss eine Ausbildung zur Tischler:in in einem Berufsbildungswerk gemacht. Die Zeit dort war begleitet von meinen Depressionen. Und im Arbeitsalltag schmerzten meine Beine. Neben meiner Mutter, die mich seit jeher wegen meines stetig steigenden Gewichts kritisierte, kam nun mein damaliger Freund hinzu.

Immer wieder kam es dazu, dass er mir sagte, wenn ich hier und da abnehmen würde, wäre ich richtig hübsch. Während er es mir sagte, zeigte er auf die betreffenden Stellen oder zwickte mich dort. Er ließ mich auch sonst spüren, dass er mich nicht sonderlich attraktiv fand. Heute weiß ich, dass ich mir das alles hab gefallen lassen, weil ich dachte, dass es normal sei. Und er schien ein echt netter Kerl zu sein, denn alle in meinem Umfeld mochten ihn.

Meine Ausbildung schloss ich erfolgreich ab. Sogar so gut, dass ich nun meinen Realschulabschluss hatte. Dennoch fühlte ich mich, als hätte ich wieder mal nichts geschafft. Ich fand keinen Job und war wieder arbeitslos und wieder in einer tiefen Depression. In der Zeit trennte ich mich von meinem Freund und wurde erst einmal wohnungslos. Zwar kam ich im Haus meiner Eltern und Großeltern unter, hatte dort aber kein Zimmer, sodass ich mein Bett in Omas Wintergarten stellte. Während dieser Zeit lernte ich wieder jemanden kennen und zog sofort zu ihm.

Sehr schnell befand ich mich in einer sehr toxischen Beziehung, in deren Verlauf ich immer schlimmer werdendem Psychoterror ausgesetzt war. Zudem sah ich mich überhaupt nicht in der Lage, mich von ihm zu lösen. Diese Beziehung sollte 4 Jahre dauern und einen immensen Schaden bei mir hinterlassen. Am Ende hatte ich sogar meinen Lebenswillen verloren. An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass ich nicht suizidal war.

Aber jegliche Zuversicht auf gute Dinge war komplett erloschen.

Im Januar 2011 ließ ich mich wieder stationär aufnehmen. Ich wollte gegen meine Depressionen kämpfen. Und wieder wurde ich gegen meinen Willen in eine Ernährungsgruppe gesteckt. Ich blieb 12 Wochen stationär und 10 Wochen in der Tagesklinik.

Meine Diagnose Depression wurde erneut bestätigt. Nur die Diagnose der Essstörung wurde auf Binge-Eating erweitert. Abgenommen habe ich nichts. Und im Jahr nach diesem Klinikaufenthalt nahm ich weiter an Gewicht zu. Nach der Klinik ging mein Leben so weiter. Oft arbeitslos oder in Aushilfsjobs. Aber ich fand endlich eine eigene Wohnung. Endlich hatte ich meine eigenen 4 Wände. Und ganz langsam wurde mein Leben in kleinen, aber stetigen Schritten, besser.

Im Herbst 2013 fing ich ein Freiwilliges-Soziales-Jahr in einem Wohnhaus für Menschen mit Behinderungen an. Diese Arbeit gefiel mir so sehr, dass ich im direkten Anschluss eine Ausbildung zur Heilerziehungspfleger:in machte und währenddessen in dem Wohnhaus weiterarbeitete.

,,Ich habe im Frühjahr 2019 die Diagnose Lipödem bekommen."

Im Rahmen des Unterrichts sprachen wir auch über ADHS, was ich bisher nur von meinem Bruder und anderen Jungen aus der Grundschulzeit kannte. Aber ich wurde hellhörig, denn so vieles, was in Bezug auf ADHS erwähnt wurde, kam mir so sehr bekannt vor. Als der Tag der Diagnostik kam, fühlte ich mich wie eine Hochstapler:in, so sehr habe ich mir über die Jahre eingeredet, dass ich mir alles nur einbilde und es lediglich an meiner fehlenden Willenskraft läge. Schon beim Vorgespräch sagte mir der Arzt, dass er ADHS bei mir für sehr wahrscheinlich hält. Was dann durch die zusätzlichen Tests belegt wurde.

Nun bekam ich Medikinet.

Nach der Ausbildung ging ich 9 Monate nach Rumänien, um dort mit Menschen mit Behinderungen zu arbeiten. Durch eine erneute Trennung im Sommer 2018 fiel ich wieder ins Bodenlose und hatte gar keinen Halt mehr. Nach der Trennung und nachdem ich aus Rumänien zurück war, konnte ich mich nicht mehr in meinem neuen Job halten und wurde wieder arbeitslos. Ich war wieder mitten in einer Depression, an deren Höhepunkt ich nicht einmal in der Lage war, mir regelmäßig Essen zu kaufen.

Durch ganz großes Glück fand ich eine Therapeut:in, die mir sehr zeitnah einen Termin geben konnte und mir auch eine längere Therapie anbot. Zum ersten Mal hatte ich eine Therapeutin, mit der ich alles richtig aufarbeiten konnte. Die Therapie war harte Arbeit. Anfangs hatte ich wöchentlich Termine. Diese waren so anstrengend, dass ich tagelang erschöpft war. Durch die Biografiearbeit, die wir am Anfang machten, habe ich zum ersten Mal Zusammenhänge erkannt.

Mein stetig wachsendes Übergewicht, was scheinbar nicht aufzuhalten war? 

Ich habe im Frühjahr 2019 die Diagnose Lipödem bekommen. Eine Fettverteilungsstörung bei der sich des Fett gänzlich unabhängig von Kalorien Zufuhr und Verbrauch vermehrt. Wenn ich heute alte Fotos von mir ansehe, dann sehe ich, dass diese Krankheit mich seit mindestens meinem 10. Lebensjahr begleitet.

Meine Essstörung habe ich erst sehr spät entwickelt und ich gebe den Kliniken, die mich in diese Essgestört:innen Gruppen gesteckt haben, eine große Mitschuld daran. Denn wären sie wirklich die Expert:innen, für die sie sich hielten, dann hätten sie sehen können, dass ich auch damals schon ein deutlich ausgeprägtes Lipödem hatte.

"Viele Dinge, von denen ich dachte, sie seien eine Charakterschwäche (weil es mir immer so vermittelt wurde), sind auf ADHS zurückzuführen.."

Meine Schulprobleme kann ich mittlerweile auf zwei Gründe zurückführen. Das permanente Abschweifen, das schier endlose Tagträumen, meine Probleme im Zeitmanagement, das Vergessen der Hausaufgaben und vieles mehr („Du musst nur wollen, dann schaffst du das.“) – sind eindeutige Hinweise auf mein ADHS. In den 90er/2000er wurde es bei Mädchen nur nicht gesehen.

Zwar ist meine Diagnose nicht allzu lange her, aber im Zeitalter von Social Media ist 2017 eine Ewigkeit. Social Media ist der Grund, weshalb ich gerade so wahnsinnig viel über ADHS und vor allem über mich lerne. Viele Dinge, von denen ich dachte, sie seien eine Charakterschwäche (weil es mir immer so vermittelt wurde), sind auf ADHS zurückzuführen.

Mein Rückzug in meine Musikwelt (Runden auf dem Sportplatz), das Selbstverletzen, meine extremen Stimmungsschwankungen… in der Zeit von meinem 12. bis zu meinem 15. Lebensjahr wurde ich von einem 12 Jahre älteren Mann psychisch und sexuell missbraucht. Niemand in der Schule ist auch nur auf die Idee gekommen, dass etwas mit mir sei.

Etwas, das mir immer wieder im Leben passiert ist, sich aber nur schwer in den biografischen Aufbau meiner Mobbing-Geschichte integrieren lässt, möchte ich hier noch einmal erwähnen.

In Bezug auf meine Gesundheit wurde ich im Laufe meines Lebens immer wieder von Ärzt:innen nicht ernst genommen, falsch behandelt, oder sogar gar nicht behandelt.

  • Sei es bei Gynäkolog:innen, die meine Beschwerden ohne mich zu untersuchen auf mein Übergewicht schieben (immer wieder, bei unterschiedlichen Ärtz:innen, Geschlecht unabhängig)
  • Der Orthopäde, der sich meinen verstauchten Knöchel angucken sollte und das erste was er zu mir sagte war: “Egal weswegen Sie hier sind, Ihnen würde ich zuerst eine Magen-OP verpassen!“
  • Schmerzen in den Beinen? Sie bewegen sich zu wenig, essen zu viel.
  • Der Arzt, der mich nicht behandelte als ich mit dem Verdacht auf K.O. Tropfen während einer Party in die Notaufnahme kam.

Diese Liste könnte ich noch ewig weiter führen. Wie viele Begegnungen mit solchen Ärzt:innen ich hatte, kann ich schon gar nicht mehr zählen. Egal, in welchem Alter ich war, ich wurde so oft nicht ernstgenommen. Als Frau – und vor allem als dicke Frau – ist so etwas eher die Regel als die Ausnahme.

Zum Ende hin möchte ich euch allen, die Mobbing Erfahrungen gemacht haben, Mut schenken. Mobbing kann man nicht nur überleben, sondern auch gestärkt daraus hervorgehen.

Die richtigen Menschen, die richtige Therapie; sich auf sein eigenes Bauchgefühl zu verlassen – das sind die Dinge, die dich wieder ins Leben holen und voranbringen und die einzigen Dinge, die dir helfen, dich aus solchen Strukturen zu lösen. 

Ich habe meine Farben und ihren Wert erkannt – ich glaube fest daran, dass du es auch schaffst!