Pridecess stellt vor: Marlon, ein Leben in Extremen und wie Musik die Seele heilen kann

Hallo Marlon, schön, dass Du Dir die Zeit für dieses Interview nimmst.

Immer gerne!

Ich würde sagen, wir kommen dann auch schon direkt zur ersten Frage.

Auf geht’s!

Wann hast Du das erste Mal gemerkt, dass Du anders bist?

Ich glaube, so richtig gemerkt habe ich es schon richtig früh. Meine Mutter hat gesagt, sobald ich laufen konnte, war ich immer weg. Ich wollte immer Abenteuer erleben und da war ich schon anders als die anderen Kinder.

In der Grundschule ging es richtig los; ich hatte Schwierigkeiten, Freunde zu finden und viele haben mich gemieden, weil ich immer mit Gewalt reagiert habe, wenn man mich ärgerte. Ich habe das Gefühl, in der Grundschule wird jeder mal irgendwann gemobbt und ich war dann schließlich auch dran; es gab eine Person, die mich immer wieder gemobbt hat. Dann gab es eine Situation, in der ich zu ihr sagte: „Lass das, sonst haue ich Dich“. Dreimal habe ich sie gewarnt, sie hat jedoch nicht aufgehört, und dann bin ich ausgerastet und über die Grenzen des „Hauens“ gegangen. Danach hatten die Anderen Angst vor mir. Außerdem war ich immer aufgedreht und hatte total viel Energie, das fanden viele anstrengend, sowohl Lehrer*Innen als auch Schüler*Innen

Wow, Du warst also ein richtiges Energiebündel; woher kam denn diese Energie?

Ich war in der Schule sehr unterfordert, hab Aufgaben so lange bearbeitet, bis ich das Ergebnis wusste und habe dabei alle notwendigen Zwischenschritte weggelassen. Ich war sehr übermütig und weil mir alles so leicht vorkam, war ich gelangweilt. Ich war jetzt nicht besonders gut in der Schule, habe mir Themen aber schnell erschlossen und war dann einfach nur gelangweilt. Ich hatte eine Veranlagung zur Hyperaktivität, ADHS wurde in einer offiziellen Stelle in Hamburg getestet, aber das wurde bei mir nicht bestätigt.

Was bedeutet denn, Du hattest eine „Veranlagung“ zur Hyperaktivität?

Naja, in besonderen Momenten ist Hyperaktivität bei mir durchgekommen, zum Beispiel in der Klasse, wenn ich sitzen musste. Mein Bewegungsdrang wurde dann nicht erfüllt. Ich konnte einfach nicht stillsitzen, brauchte immer etwas, was ich in die Hand nehmen konnte, zum Beispiel Stifte, Papier, irgendwas, Hauptsache, ich konnte mich bewegen. Wenn ich Sport machen konnte, war alles gut, weil ich mich dann ja auch bewegen konnte.

Wie hat sich denn Dein Leben damit gestaltet?

Anstrengend, sowohl für mich als auch für Andere. Besonders anders gelebt als Andere, habe ich jetzt nicht. Es war auch für mich anstrengend, hyperaktiv zu sein, denn nicht nur den Anderen geht es auf die Nerven. Es kommen dann immer Personen an und sagen: „Komm mal runter, sei mal nicht so wild, …“. Ja, das würde ich gerne, nur ich kann es einfach nicht. Im Endeffekt war es für alle anstrengend.

Hast Du bzw. haben Deine Eltern etwas versucht, damit es nicht mehr so anstrengend ist? Hast Du zum Beispiel Medikamente bekommen?

Das kam infrage bei meinen Lehrern, weil ich ihnen zu anstrengend war. Meine Eltern sagten, dass sie meine Energie nicht mit Medikamenten stillen müssen. Sobald man mir sehr schwierige und komplizierte Aufgaben gegeben hat in der Schule, konnte ich mich sogar konzentrieren, dann wurde ich nämlich endlich mal gefordert und musste mich nicht langweilen. Was die Medikamente angeht, bin ich sehr froh darüber, dass meine Eltern sich dagegen entschieden haben.

Dann haben Deine Eltern also die richtige Entscheidung getroffen?

Ja, definitiv.

Gab es denn noch andere Aspekte, in denen Du anders warst?

Ja, definitiv. Ich habe es sehr bei meinem Musikgeschmack gemerkt. Seitdem ich zehn war, war ich in Dubstep verliebt, fast zehn Jahre höre ich es schon und ich kann nicht aufhören. Musik hat mich immer begleitet. Wenn ich Anderen meine Musik gezeigt habe, kamen nur solche Reaktionen: „Das klingt so scheiße!“, „Meins wäre das überhaupt nicht!“ oder „Was hörst Du da für einen Schrott?“. Es hat einfach niemand in meinem Umfeld gehört. Das hat in mir den Effekt ausgelöst, dass ich nie mehr öffentlich meine Musik gezeigt habe. Das führte dazu, dass ich das, was mich glücklich gemacht hat, nicht nach außen tragen konnte. Meinen Musikgeschmack habe ich dann irgendwann später meinem Vater gezeigt. Er selbst spielt Gitarre und war sehr enttäuscht von meinem Musikgeschmack: „Das ist keine Musik, was Du da hörst.“ Meine Mutter hat mich da auch nicht unterstützt, ich wurde damit sehr alleine gelassen und Das ist für mich nicht in Ordnung gewesen.

Es ist immer unschön, wenn man etwas, wofür man richtig brennt, nicht stolz nach außen präsentieren kann und es sogar noch schlechtgemacht wird. Wie sieht es denn heute bei Dir damit aus? Eckst Du damit noch an oder wirst Du damit akzeptiert?

Mein Musikgeschmack hat sich gewandelt, ist aber immer noch elektronische Musik. Es gibt Leute, die es vielleicht nur ein bisschen mögen, aber ich liebe das, es gibt mir so viel Energie. Das Shaming hat aufgehört, als ich Menschen kennengelernt habe, die akzeptierten, dass jeder irgendwie anders ist und ich bin sehr froh, sie kennengelernt zu haben.

Das heißt, Du bist in einem Freundeskreis gelandet, in dem jede Person das Anderssein von allen Menschen akzeptiert.

Ich könnte jederzeit sagen, wenn sie mir gegenüber verletzend sind, und sie würden ihr Verhalten ändern. Es ist ein sehr respektvoller Umgang miteinander und ich kann sagen, das sind alles sehr nette Menschen.

Ich finde es unglaublich toll und wichtig, einen Freundeskreis zu haben, in dem man wirklich akzeptiert und respektiert wird.

Das sehe ich genauso und das war auch so, denn durch meine Freund*Innen habe ich auch meine Geschlechtsidentität offen ausleben können.

Geschlechtsidentität? Jetzt bin ich gespannt, es kommt also noch ein weiteres Anderssein; erzähl gerne mehr davon.

Ich bin kein Junge, mag zwar danach aussehen, ich bin aber kein Junge. Mir ist das aufgefallen, weil Worte, wie Kerl oder Mann, sich komisch anfühlten für mich. Mit 15 war es sehr skurril, ich fand es sehr suspekt, weil für mich das erste Mal die Frage aufkam: „Wer bin ich überhaupt?“. Ich bin kein Mann, kein Junge, aber für mich war auch klar, ich bin keine Frau, kein Mädchen. Ich habe gemerkt, ich bin nicht geschlechtlich und ich habe mich sehr wohl damit gefühlt. Obwohl ich einen tollen Freundeskreis und tolle Eltern hatte, dauerte es lange, mich selbst so zu akzeptieren. (Dann kamen da noch Depressionen hinzu und ich habe dann das ganze Thema aufgeschoben.)

Für Dich ist das Labeln also ein sehr wichtiges Thema?

Ja, absolut! Labeln bedeutet für mich, dass man anerkennt, wer man ist. Früher habe ich auch nicht verstanden, warum man sich labeln sollte, aber als ich selbst mit meiner Geschlechtsidentität konfrontiert wurde, habe ich meine Meinung darüber geändert und ich bin dankbar, dass meine Freund*Innen meine Entscheidungen respektieren; das ist mir sehr wichtig.

Seit wann lebst Du denn dieses Anderssein?

Tatsächlich, glaube ich, erst aktiv seit einem dreiviertel Jahr.

Hast Du Dir auch schon einmal gewünscht, nicht anders zu sein?

Ja, tatsächlich. Vor allem zu der Zeit, als ich 17 Jahre alt war. Ich habe nämlich eine drogenbedingte Psychose bekommen und habe mir täglich gewünscht, ich hätte es anders gemacht. Ich hätte mich anders verhalten sollen, denn ich habe täglich gelitten. Außenstehende sagten mir: „Hör doch einfach auf!“. Ich habe allerdings nicht konsumiert, weil es mir Spaß gemacht hat, sondern, weil es mir scheiße ging. Ich habe in meiner Kindheit gravierende Dinge getan, über die ich im Rahmen des Interviews nicht sprechen möchte. Ich habe mir fast jeden Tag gewünscht, ich wäre anders gewesen. Es war im Großen und Ganzen eine echt schmerzhafte Zeit.

Das klingt für mich nach vielen Schmerzen, die Du ertragen hast. Hattest Du denn in dieser Zeit Unterstützung und wenn ja, von wem?

Ja, ich habe einen tollen Freundeskreis, und eine tolle Freundin, ich habe mir nicht helfen lassen wollen, aber regelmäßig nach Hilfe gerungen, ohne dass jemand etwas gemerkt hat. Ich war ziemlich gut im Verstecken darin, dass es mir nicht gut geht. Ein halbes Jahr oder sogar ein dreiviertel Jahr hatte ich jeden Tag Panikattacken mit Schwindelanfällen, sodass ich manchmal nicht einmal merkte, in welchem Raum ich mich befand. Jeden Tag habe ich bis zu 10 Panikattacken erlebt, sie aber nicht nach außen gezeigt; sogar die konnte ich gut verstecken. Einer meiner besten Freunde hat gesagt: „Ich habe zwar gemerkt, dass es Dir nicht gut geht, aber so doll, das hätte ich nicht gedacht“. Ich habe nicht verlangt, dass es Andere sehen, aber meine Art, es zu verbergen, war gleichzeitig ein Hilfeschrei, den Andere leider nicht sehen konnten. Ich hätte Hilfe haben können, alle Hilfe dieser Welt, ich habe leider nie darum gebeten, und selbst wenn mir Hilfe angeboten wurde, habe ich sie abgelehnt. Irgendwann habe ich meinen Eltern gesagt, ich brauche eine Therapie und zwar dringend. Meine Eltern dachten, unser Kind hat mal wieder einen schlechten Tag und haben mich deshalb nicht ernst genommen. Nach außen hin war ich ja schließlich immer der typische Marlon. Ich mache meinen Eltern an der Stelle auch keinen Vorwurf, da ich ja selbst immer ziemlich gut geschauspielert habe. Sie konnten es ja gar nicht wissen. Später wurde es dann schlimmer. Ich hatte Depressionen, konnte weder aufstehen noch zur Schule gehen. Ich habe wenig gegessen, wenig geschlafen und nichts unternommen. Meine Eltern haben dann realisiert, dass das nicht der Marlon ist, den sie kennen. Als ich dann gesagt habe, dass ich so schnell wie möglich eine Therapie machen möchte, haben sie mich ernst genommen und mir zugestimmt.

Wie gut, dass Deine Eltern Dir letztendlich zugestimmt haben; es scheint ja eine sehr harte und schwierige Zeit gewesen zu sein.

Ja, drei Suizidversuche und ein regelmäßiger Drogenkonsum waren schon echt hart.

Bitte was? Es gab zudem noch Suizidversuche?

Ab einem gewissen Punkt ist das Ganze so anstrengend, dass man keine Lust mehr hat. Ich hatte neben der Depression Paranoia-Anfälle, schizophrene Züge und die ganze Zeit das Gefühl, dass ich verrückt werde. Irgendwann überlegst Du Dir: „Ist das wirklich eine Option?“. Man will gar nicht an sowas denken, aber meine Depression hat versucht, mich zu motivieren, mir das Leben zu nehmen. Ich sage ganz klar, das war nicht ich; ich grenze mich von meiner Depression ab. Die größte Motivation war für mich, so schnell wie möglich da herauszukommen und es war zum Glück nicht zu spät, denn es ist niemals zu spät. Ich bin tatsächlich auch dankbar, dass ich es erlebt habe und nach alledem nun hier sitzen und dieses Interview führen kann.

Dafür kann man echt dankbar sein. Ich finde es echt krass, was Du durchgemacht hast. Du meintest, Du warst auch in Therapie? Inwiefern hat die geholfen? War sie es, die Dich da herausgeholt hat?

Therapie ist nicht der Ausweg. Man darf sich nicht vorstellen, dass Therapie einen da einfach herausholt. Wenn man Depressionen hat, fehlt einem die Energie. Therapie bildet den Anfang, also quasi den Grundstein, von dem aus man hochklettern kann, aber klettern muss man immer noch selber. Ich habe durch Therapie und eine Trennung einen Ansporn bekommen. Durch meine ständigen Panikattacken konnte ich zudem keine Drogen mehr konsumieren. Trotzdem hat es ein dreiviertel Jahr gedauert, bis ich wieder nüchtern war.

Auf einmal kam meine ganze Energie zurück und meine Therapie hat mir dabei geholfen, diese zu bündeln, sodass ich damit gut umgehen konnte. Jetzt mache ich Musik, die ich liebe. Meine Therapie hat geholfen, meine Beziehung hat geholfen und meine Musik hat geholfen. Eine Sache allein hätte mir nicht helfen können, es war die Kombination aus den drei Sachen, die mich letztendlich da herausgeholt hat.

Es freut mich, dass Du so viele positive Einflüsse hattest. Wie sieht es denn heutzutage bei Dir aus?

Ich habe immer noch damit zu kämpfen, kann aber mittlerweile damit umgehen. Mir geht es zurzeit supergut, ich habe die Möglichkeit, eine Karriere anzustreben mit meiner Musik, die ich mache. Ich kann endlich das tun, was ich liebe. Ich bin fern von dieser ganzen Vergangenheit, jetzt lebe ich einfach in der Gegenwart, ich genieße jeden Tag und das finde ich einfach wundervoll.

Wow, ich bin sehr froh darüber, dass Du diese schwierige Zeit überstanden hast und es Dir nun so gut geht. Möchtest Du den Leuten noch etwas auf den Weg geben?

Werft Eure Zeit nicht weg, es ist völlig egal, ob Ihr etwas Produktives macht oder etwas, was Euch einfach nur Spaß macht, aber ganz wichtig: Zeit ist kostbar und man sollte sie nicht verschwenden.

Dankeschön, Marlon, für dieses Interview.

Ich danke Euch, es hat mir Spaß gemacht. Ich finde es total geil, dass Ihr Leuten eine Bühne gebt, um über das Anderssein zu berichten. Ihr sorgt dafür, dass sich immer mehr in ihrem Anderssein sicher fühlen können und ich freue mich mega, dass ich dabei sein konnte!

Vielen Dank für Deine lieben Worte!


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